Schlangenbader Straße – ein Fragment
Häuser sind Traumgestalten. Sie führen ein Doppelleben. Man kennt sie schon, bevor man ihre Fassaden mit dem eigenen Gesicht vertauscht. Ich heiße Maria und wohne in der Schlangenberger Straße, in dem selben Haus, in dem auch meine Mutter eine Zeitlang gelebt hat, bevor sie wieder nach Kuba zurückkehrte. Das Haus hat eine Geschichte. Es ist unsere Geschichte. 1931 bis 1933 hat hier auch Wilhelm Reich gelebt. Möglich, dass meine Mutter ihn kannte. Sie muss ihm begegnet sein. Raimond schellt. Wir schauen uns ein Foto aus Havanna an. Es zeigt einen Jungen im Sprung. Er hat gerade den höchsten Punkt erreicht, bevor ihn sein Gewicht nach unten ziehen wird. Ein höchster Grad an Lebendigkeit ist erreicht. Dagegen ist alles andere zweitrangig. Die Uferpromenade und der Strand im Hintergrund. Für einen Moment lebt der Junge fort, immer weiter fort. Denn die Fotografie hält diesen Augenblick fest. Die Zeit steht still. Dieses majestätische Gefühl erfasst uns. Wir sind bei dem Jungen. Zugleich kommen wir uns sehr nah. Lebendigkeit durchströmt unsere Körper. Nackt wie der Junge über dem Meer erreichen wir den höchsten Punkt, bis die Anstrengung unserer sich liebender Körper uns ins Leben zurückwirft.
Wieder schauen wir das Foto an. Und fallen uns in die Arme.
Es gibt ein Foto, auf dem wir beide zu sehen sind. Wir sind weder tot noch lebendig. Unser Foto existiert. Viele Fotos von mir existieren. Ich ziehe im Strom der Bilder dahin. Mein Wunschtraum ist, ich wäre gern eine Hausahnin hinter einer Türschwelle oder Fassade. Doch diese Zeit ist versiegelt. Die Schlangenbader Straße habe ich über Google Maps gefunden. Fassaden erzählen. Sie ziehen mich magisch an. Um mir die Zeit zu vertreiben, schaue ich auch andere Fotos an. Ich liebe Fotos aus Kuba. Wenn man mir eine Freude machen will, braucht man mir nur alte, am besten analoge Photographien aus Kuba zu zeigen. Ich bilde mir ein, dass in den Bildern Lebensenergie gespeichert ist. Ich möchte einmal aus dem Bild treten. Kein Bild mehr sein. Ich möchte in Kuba leben.
AE, Berlin März 2013
Schlangenbader Straße – a fragment
Houses are dream figures. They lead double lives. One already knows them before exchanging their facades with the own face. My name is Maria and I live in the Schlangenbader Straße, in the same house my mother lived in for some time before going back to Cuba. The house has a history. It is our history. Wilhem Rich has also been living here from 1931 until 1933. It is possible that my mother knew him. She has to have met him. Raimond rings. We look at a picture from Havana. It shows a boy jumping. He just reached the highest point before his weight will pull him down. A highest level of liveliness is reached. Everything else is secondary against that. The riverside walk and the beach can be seen in the background. For a moment the boy lives on, on and on. The photography captures that moment. The time stands still. We become gripped by that majestic feeling . We feel with that boy. At the same time the two of us are getting closer. Naked like the boy over the sea we reach the highest point, until the exertion of our bodies loving each other throws us back to life.
Again we are looking at the picture. And embrace each other.
There is a picture that shows us two. Neither are we dead nor alive. Our picture exists. Many pictures of me exist. I move along with the flow of the pictures. I have the dream to be a house ancestor behind a door sill or facade. But these times are sealed up. I found the Schlangenbader Street on google maps. Facades tell. They attract me magically. In order to while away the time I also look at other pictures. I love photographs from Cuba. If one wants to please me, just show me old, preferably analogue images from Cuba. I imagine that these pictures memorize the life energy. I once want to step out of the image. Not being a picture any more. I want to live in Cuba.
AE, Berlin, March 2013